Extremsport Eisbaden: Berliner auf der Suche nach dem Kältekick

2022-09-09 12:43:44 By : Mr. Jeffery Zhang

Landauf, landab stürzen sich Menschen derzeit in eiskalte Gewässer. Was bringt dem Körper die winterliche Abkühlung? Und wie tastet man sich daran? Ein Selbstversuch.

7.02.21, 16:00 Uhr | Von Robin Schmidt, Philipp Hauner

Sich an einem Samstagmorgen im Januar nicht unter der warmen Bettdecke zu wälzen, sondern in den kalten Weißen See einzutauchen, klingt bei meiner kargen Begeisterung für die Wintermonate nach einem mehr als abwegigen Traum. Doch die Kältepeitsche, die mit drei Grad Außentemperatur um kurz nach neun Uhr über meinen nackten Oberkörper streift, holt mich in die Realität zurück und lässt mich vor dem, was in den nächsten Minuten auf mich wartet, allein gedanklich schaudern. Ich gehe gleich eisbaden. Im etwa ein Grad warmen Weißen See.

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Mit dieser frostigen Herausforderung sehe ich mich dieser Tage nicht allein konfrontiert. Zwar gibt es in Deutschland keine belastbaren Daten über die Anzahl an Eisbadern, aber besonders im ersten Pandemie-Winter breiten sich Bilder und Videos von Menschen, die beherzt in einen See oder Fluss hüpfen, in den sozialen Medien rasant aus – egal ob in der Eisbach in München, in der Hamburger Alster oder im Weißen See in Berlin.

Für die einen dürfte es eine willkommene Abwechslung in einer Zeit sein, in der der Lebensmitteleinkauf wohl das größte Spektakel in der Woche darstellt. Manch anderer will sich möglicherweise abhärten. Wobei eine Abwehrfunktion gegen das Coronavirus durch das Eisbaden wissenschaftlich nicht belegt ist und wohl ausgeschlossen werden kann. Und dann gibt es noch diejenigen, die der Hype darum völlig kaltlässt, weil sie schon seit Jahren auf den Gang ins eisige Gewässer schwören.

Eine dieser langjährigen Winterbaderinnen ist Karolina Skomra. Die 27-jährige Grafik-und Webdesignerin geht gerne ins Extreme und liebt es, ihre Komfortzone zu verlassen, erzählt sie an diesem Samstagmorgen. Ihren sportlichen Willen bringt die rothaarige junge Frau bereits vor dem Eisbaden zum Ausdruck. Skomra ist etwa 20 Minuten mit dem Fahrrad zum Weißen See geradelt und wird sich ebenso im Anschluss an das Bad auf ihren Sattel schwingen. „Ich mag es, aktiv zu sein und starte am liebsten morgens, um den Blutdruck hochzufahren. Entweder gehe ich dann laufen, klettern, mache Yoga oder spiele Volleyball.“ Oder sie badet in einem eisigen See.

Seit zwei Jahren leitet Skomra das Winterbaden der „Ice Dippers Berlin“, einer kältebegeisterten Gruppe von rund 70 Leuten, am Weißen See. Neben diesem See treffen sich die zugehörigen Eisbader auch am Plötzensee oder in Alt-Stralau, um gemeinsam ins Wasser zu entgleiten. Normalerweise jeden Samstagmorgen und in zahlreicher Menge. Die Kontaktbeschränkungen lassen solch eine Menschenschar unter freiem Himmel aktuell allerdings nicht zu. Verfällt die Gruppe deswegen in kalte Panik? „Nein“, sagt Skomra, denn „einige Eisbader begegnen dieser Regel mit Kreativität.  „Manche von uns haben sich kleine aufblasbare Schwimmbecken auf ihre Dächer gestellt und kühlen sich darin ab.“

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Sie selbst zieht es in ein richtiges Gewässer. Dazu brachten sie Freunde. „Ich bin eine Frostbeule und konnte es mir am Anfang nicht vorstellen.“ Drei Monate lang hat sie von draußen zugeschaut, wenn die anderen ins winterlich kühle Nass aufgebrochen sind. „Nachdem meine Freunde aus dem Wasser gekommen sind, haben sie immer so gestrahlt“, sagt Skomra. Eine Verwandlung, die auch sie erleben wollte. Inzwischen sei die Schwelle zwischen warm und kalt bei ihr verschwunden. Skomra geht zu jeder Jahreszeit baden. Meist bleibt sie bis zu zehn Minuten im Wasser.

Was für Skomra längst zur Gewohnheit geworden ist, klingt für mich nach einem unüberbrückbaren Zeitintervall. Eine Minute im Eiswasser zu bleiben, habe ich mir vorher als Ziel gesetzt. Kann ich mich vorab selbst bis zu einem Punkt dressieren, an dem mir die Kälte nichts mehr ausmacht? Halte ich durch eine antrainierte Resilienz vielleicht sogar länger als geplant durch?

„Egal was du machst, richtig darauf vorbereiten kannst du dich nicht“, sagt Skomra und entmutigt mich in einem Telefonat vorab gleich noch ein wenig mehr. Ihre harte Wahrheit lautet: „Es wird auf jeden Fall ein kleiner Schock werden für ein paar Sekunden.“ Sie muss es wissen. Das erste Mal, als sie ins eiskalte Wasser ging, habe sie angefangen zu schreien und wollte direkt wieder rausrennen. Mit kalten Duschen darauf vorbereitet hat sich Skomra nicht. Weil das Wasser von oben komme, sei es ohnehin nicht vergleichbar mit dem Gang in den See.

Eine Woche bevor wir uns zum Eisbaden verabredet haben, beginne ich dennoch mit Wechselduschen. Die Hälfte der Zeit dusche ich warm, am Ende drehe ich den Wasserhahn nach ganz rechts und somit auf die kälteste Stufe. Mir läuft am ersten Tag buchstäblich ein eiskalter Schauer den Rücken herunter. Aber schon nach zwei Minuten kalter Dusche fühle ich mich viel wacher und agiler. Bis zum vorletzten Tag vor unserem Treffen steigere ich das Kältepensum während meines Duschvorgangs um einige Sekunden. Vier Minuten schaffe ich am Ende.

Mein vorläufiger Endgegner vor dem Tauchgang in den Weißen See wartet allerdings am Freitagmorgen auf mich. Ich habe mir ein Bad mit kaltem Wasser eingelassen, in das ich mich gleich legen werde. Weil die Wassertemperatur mit rund zehn Grad aber nicht mal ansatzweise mit der vergleichbar ist, die mich im See erwarten soll, kippe ich zusätzlich zwei Beutel mit riesigen Eiswürfeln ins Wasser. Für ein noch realistischeres Szenario öffne ich das Badfenster komplett. Dann steige ich in die Eiswanne.

Nachdem ich eine halbe Minute knietief im Wasser stehe, verlasse ich die Wanne wieder. Meine Zehenspitzen spüre ich nicht mehr richtig. So schnell gebe ich nicht auf. Ich versuche es nach kurzer Pause erneut. Diesmal setze ich mich schneller mit dem Körper auf den Boden. Vier Minuten halte ich es aus. Zufrieden steige ich aus dem Eiswasser und blicke fast schon ein wenig mit warmen Gedanken auf den nächsten Morgen.

Als der Fotograf und ich am Stichtag in Richtung Weißen See schreiten, wärmt sich am Wasser bereits eine kleine Gruppe mit Atemübungen auf. Sie gehört nicht zu den „Ice Dippers Berlin“. Karolina Skomra wartet vor dem Milchhäuschen. Begleitet wird sie von Marco Wiechmann. Der 44-jährige Marketingberater ist, ebenso wie Skomra, jemand, der gerne alles ausprobiert. Sein Sportprogramm: Basketball, Laufen, Yoga. Eisbaden sei für ihn nach einigen Malen „nichts Extremes mehr“ gewesen. „Ich habe schon überlegt aufzuhören, weil es mir zu langweilig ist“, sagt Wiechmann.

Von Langeweile bin ich zu diesem Zeitpunkt so weit entfernt wie von einem wohltuenden Saunaaufguss. Skomra und Wiechmann bereiten mich nun auf mein erstes Mal eisbaden vor. Dafür orientieren wir uns an Wim Hof und seiner Methode. Wer eisbaden will, kommt nicht drumherum, sich mit diesem Namen zu beschäftigen.

Der niederländische Extremsportler, der auch „The Iceman“ genannt wird, hält über zwei Dutzend internationale Rekorde im Aushalten von extremer Kälte. Hof schaffte es, fast zwei Stunden lang bis zum Hals in Eiswasser zu stehen. Wie hat er das bewältigt? Mit einer speziellen Atemtechnik, die man übt, bevor man sich ins eiskalte Wasser tunkt.

Dafür setzen Wiechmann und ich uns auf mitgebrachten Decken gegenüber von Skomra, die die Übung mit stoischer Ruhe beginnt. Wir sollen 30 Mal tief ein- und stoßartig ausatmen und darauf achten, dass man in Brust, Bauch und Kopf reinatmet. Beim 30. Atemzug sollen wir vollständig ausatmen und die Luft solange anhalten wie wir können. „Dadurch, dass wir die Luft anhalten geht Kohlenstoffdioxid aus dem Blut und es wird mehr Sauerstoff aufgenommen“, erklärt Skomra.

Zwei weitere Runden verfahren wir nach dieser Technik. Ich bemerke durch diese Art der Atmung eine Befreiung und bekomme sogar das Gefühl, dass ich es länger als eine Minute schaffen könnte. Bevor es dann tatsächlich ins Wasser geht, machen wir auf unseren Decken noch einige Liegestützen.

Gut aufgewärmt ziehe ich meine Kleidung bis auf die Badehose aus. Zu der Reihe an Vorteilen, die das Eisbaden mit sich bringt, zählt die Tatsache, dass man dafür fast nichts benötigt. Theoretisch nur die Badebekleidung. Praktisch erkenne ich im Wasser einige, vorwiegend ältere Winterbader, für die selbst das zu viel ist und die nackt im See hocken. Skomra hatte mir vorher geraten, Handschuhe, eine Mütze und heißen Tee mitzunehmen. Die Mütze deshalb, damit zumindest der Kopf warm bleibt.

Als wir am Wasser stehen, setzt leichter Nieselregen ein. Jetzt erst recht denke ich mir und stoße gemeinsam mit Skomra und Wiechmann ein lautes „Aaahuuu“ als Kampfschrei aus. Entschlossen trete ich ins Wasser. Bereits in den ersten Sekunden gefrieren meine Zehen. Ich versuche, so schnell wie möglich bis zum Oberkörper in den eiskalten See einzutauchen und eins mit dem Wasser zu werden.

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Die Atemübungen im Voraus helfen mir, mich zu konzentrieren und die drückende Kälte auszuhalten. Das Gemeinschaftsgefühl macht es mir zusätzlich leichter, nicht jetzt schon aufzugeben. Als ich die erste Minute, mein ausgegebenes Ziel, erreicht habe, fühlen sich meine Beine und der Oberkörper fast ein wenig warm an.

Am Ufer sehe ich, wie immer mehr Menschen am Weißen See ankommen und sich mit Atemübungen aufwärmen. Meine innere Reise ist mittlerweile voll im Gange. Mein Atem hat seinen Rhythmus gefunden, mein Körper kommt trotz der Kälte zur Ruhe. Lediglich meine Zehen spielen nicht mit und bleiben die ganze Zeit unterkühlt. Ich spüre sie fast nicht mehr. Nach fünf Minuten verlasse ich den See mit einem breiten Grinsen. Auch wenn mein Körper krebsrot ist, fühlt es sich großartig und befreiend an, diese Hürde genommen zu haben.

Ich trockne mich nicht sofort ab, sondern stehe einige Sekunden mit einem wohligen Glücksgefühl auf der Decke, während Skomra und Wiechmann noch für einige Minuten im Wasser bleiben. Auch wenn ich mich am Nachmittag für einige Zeit ins Bett legen werde, fühle ich mich den ganzen Tag wach und lebendig. Skomra nennt dieses Gefühl „HD-Sicht“. „Ich habe dann eine besonders scharfe Sicht auf die Dinge, bin präsent und euphorisch. In der Zeit nach dem Eisbaden kann ich besonders gut arbeiten“, sagt sie. Krank geworden sei sie schon lange nicht mehr.

Doch wie bewertet die Medizin den Sprung ins eiskalte Wasser? Anruf bei Andreas Michalsen, Arzt für Naturheilkunde am Immanuel-Krankenhaus in Berlin-Wannsee. Gleich mehrere positive Effekte stellten sich ein, wenn wir unseren Körper der Kälte aussetzen. Zum einen würde die Kälte das Immunsystem ankurbeln, da die „Reize wie ein Training wirken. Das ist in vielen Studien belegt.“ Ein weiterer Trainingseffekt entstehe dadurch, dass sich durch den Kontakt zum kalten Wasser die Blutgefäße plötzlich verengen.

„Der Körper versucht dann“, erklärt der Chefarzt, „jede Wärmeabstrahlung zu vermeiden und das Herz muss stärker pumpen. Wenn man rauskommt, erweitern sich die Gefäße – und der Körper wird ganz rot“ – man strengt ihn also an, ähnlich wie bei sportlicher Betätigung. Doch damit ist der Chefarzt noch nicht am Ende: „Eisbaden macht schmerzunempfindlicher. Schließlich prickelt es auf der Haut und tut dann auch weh. Der willentlich induzierte Schmerz führt zu einer Regelanpassung der Schmerzfühler und die Schmerzschwelle wird in der Wahrnehmung nach oben gesetzt.“

Dass der Mediziner selbst ein Kältefan ist, daraus macht er keinen Hehl: „Immer wenn ich in einem Hotelzimmer kein richtig kaltes Wasser bekomme, macht mich das unglücklich.“ Seit Jahren duscht Michalsen kalt am Morgen, „weil ich mich danach frisch und vitalisiert fühle.“ Hin- und wieder, wenn er „Muße hat“, gehe er auch zur Winterzeit „bis zum Unterkörper“ in einen kalten See. Eisbaden-Anfängern rät der Chefarzt, sich langsam an das kalte Wasser heranzutasten und es nicht so wie er zu machen: „Als ich mein allererstes Mal Eisbaden im Schlachtensee war, habe ich mir eine Erkältung geholt. Ich war einfach völlig ungeübt.“ Außerdem sei wichtig, vorher abklären zu lassen, dass man herzgesund ist: „Jeder 50-jährige sollte davor ein EKG beim Hausarzt gemacht haben.“

Auch bei seinen Patienten im Immanuel-Krankenhaus arbeitet Michalsen mit einer Form der Kältetherapie. Dafür schickt er sie aber nicht in den Wannsee, sondern in die Kältekammer. Bei minus 110 Grad halten sie sich in dem verglasten Raum bis zu drei Minuten auf – „nicht länger, denn sonst droht eine Unterkühlung.“ In den 90er Jahren habe man weltweit mit der Kältetherapie begonnen, heute setzt man sie bei rheumatischen Beschwerden, chronischen Rückenschmerzen oder etwa auch Nervenschmerzen ein. Mit viel Erfolg, wie Andreas Michaelsen berichtet: „Die Schmerzwahrnehmung sinkt signifikant.“

Außerdem beobachtet er regelmäßig, dass die Kältebehandlung die Stimmung seiner Patienten verbessere: „Nachdem eine anfängliche Skepsis überwunden worden ist, freuen sich viele meiner Patienten auf den Kälteschock – und viele verlassen die Kammer mit einem freudigen Gesicht.“ Warum das so ist, kann Michalsen nicht sagen: „Es gibt Studien, dass durch die Kälte Endorphine und Betäubungsstoffe im Hirn ausgeschüttet werden – aber diese sind nicht fundiert. Es könnte auch ein psychologischer Effekt dahinterstehen, etwa das gute Gefühl, sich an die eigenen Grenzen gewagt zu haben.“ Oder um es mit eigenen Worten zu sagen: Wer vom Eisbaden kommt, ist ein anderer Mensch.