Wie ein Google-Quantencomputer einen Zeitkristall erzeugt

2022-09-17 13:59:38 By : Mr. Evan Chen

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Trotz aller Fortschritte sind die existierenden Quantencomputer für praktische Anwendungen in der Regel noch nicht zu gebrauchen. Das liegt unter anderem daran, dass sich die Rechenoperationen noch nicht ausreichend kontrollieren und variieren lassen. „Bevor aus Quantencomputern wirklich universelle Rechenmaschinen werden, können sie als experimentelle Plattform dienen, um grundlegende Fragen der Quantendynamik zu untersuchen“, prognostiziert der Festkörperphysiker Roderich Moessner, Direktor am Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme in Dresden. Nun ist einer internationalen Forschergruppe, der auch Moessner angehört, ein solches Experiment gelungen. Wie die Wissenschaftler im Fachmagazin Nature berichten, haben sie den Quantencomputer Sycamore von Google derart programmiert, dass dessen elementare Recheneinheiten, die Quantenbits, zwischen verschiedenen Quantenzuständen geordnet hin- und hersprangen. Das hört sich zunächst banal an. Das Verblüffende daran war jedoch, dass diese periodische Bewegung so gut wie keine Energie verbrauchte – und im Idealfall sogar ewig fortgedauert hätte. Physiker nennen dieses seltsame Phänomen einen Zeitkristall.

Ein Zeitkristall schien lange Zeit als ein Ding der Unmöglichkeit. Denn periodische Bewegungen, die ohne regelmäßigen äußeren Impuls unendlich lange fortbestehen, kann es eigentlich nicht geben. Eine Schaukel beispielsweise muss immer wieder angestoßen werden, damit sie schwingt. Selbst ein ideales reibungsfreies Pendel bewegt sich nur unendlich lange, wenn man es als eindimensionales System betrachtet. In der Realität handelt es sich aber um ein Vielteilchensystem, in dem sich die Bewegungsenergie nach und nach auf die internen Freiheitsgrade seiner Moleküle verteilt. So würde sich das Pendel mit der Zeit erwärmen und immer langsamer schwingen. Diese gleichmäßige Verteilung der Energie auf alle Freiheitsgrade folgt aus dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, der besagt, dass die Entropie – ein Maß für die Unordnung – stets zunimmt. Zeitkristalle würden also gegen dieses physikalische Gesetz verstoßen, glaubten Physiker lange Zeit.

Das Phänomen eines Zeitkristalls beschrieb erstmals der Physiker und Nobelpreisträger Frank Wilczek vom Massachusetts Institute of Technology im Jahr 2012. „Es ist wie bei einem Kristall, aber bezüglich der Zeit“, soll Wilczek die Idee seiner Frau erklärt haben. Sie habe ihm dann den griffigen Namen „Time Crystals“ vorgeschlagen, so Wilczek. Eine wesentliche Eigenschaft eines herkömmlichen Kristalls – eines Diamanten, eines Eis- oder Salzkristalls beispielsweise – ist die regelmäßige Gitterstruktur der Atome, Ionen oder Moleküle, aus denen er besteht. In Zeitkristallen ist es ähnlich: Hier wiederholen sich die Strukturen jedoch nicht im Raum, sondern in der Zeit. Um ein Vielfaches theoretischer argumentierte Wilzcek: Kristalle brechen die Symmetrie des Raums. Nehmen wir Eis. Gefriert Wasser, entscheidet eine kleine Fluktuation am Anfang darüber, wo das erste Molekül sitzt. Von nun an haben die Moleküle keine freie Platzwahl mehr, weil sie im Kristallgitter eine feste Position haben. Die Regel, dass jeder beliebige Punkt im Raum gleichermaßen verfügbar ist, wird gebrochen – und damit auch die sogenannte Translationssymmetrie des Raums.

Analog könnte eine Symmetriebrechung in der Zeit existieren, vermutete Wilczek. Denn trotz der offensichtlichen Unterschiede zwischen der vierten Dimension und den drei Raumdimensionen haben sie einiges gemein: Die vier Dimensionen sind relativ, sie lassen sich stauchen und dehnen. Wieso sollte es also nicht auch ein System geben, so Wilczek, in dem nicht alle Zeitpunkte „gleichwertig“ sind? Im Jahr 2016 fanden Roderich Moessner und drei weitere Forscher ein physikalisches System, in dem Wilczeks Vorstellungen offenkundig verwirklicht sind: in einer sogenannten Vielteilchen-Lokalisierung. Hier sind die einzelnen Teilchen des Kollektivs gewissermaßen in einer stark zerklüfteten Energielandschaft gefangen, sodass das System nie ins thermodynamische Gleichgewicht gelangt. Stattdessen pendelt es im Zustand niedrigster Energie periodisch zwischen verschiedenen Konfigurationen hin und her. Es befindet sich in einem angeregten, aber zugleich stabilen Zustand – in einem Zeitkristall. Eher zufällig sei man auf diese Schlussfolgerung gestoßen, sagt Moessner.

Ein Jahr später gelang amerikanischen Forschern in Harvard tatsächlich der erste experimentelle Nachweis eines Zeitkristalls. Mikhail Lukin und seine Mitarbeiter nutzten hierfür ein Ensemble von etwa einer Million Stickstoffatome, die in einem Diamanten eingeschlossen waren. Nach einer Anregung mit einem Mikrowellenfeld begannen die magnetischen Momente der Atome kollektiv zu schwingen und sich dabei immer wieder in gleichen Konfigurationen anzuordnen. Die Atome nahmen dabei netto keine Energie auf, und das System oszillierte zudem langsamer als die Mikrowellen, was charakteristisch für einen Zeitkristall ist.

Inzwischen konnten weitere Forschergruppen die Idee Wilczeks verwirklichen. So erzeugte im Jahr 2019 eine Gruppe um Tilman Esslinger von der ETH Zürich einen Zeitkristall in einem Bose-Einstein-Kondensat – einem kollektiven quantenmechanischen Zustand von Atomen nahe dem absoluten Temperaturnullpunkt. Die Teilchen verlieren hierbei ihre Individualität und verhalten sich als Kollektiv wie ein Superatom. Mit einem Laserstrahl versetzten die Forscher das System in eine kontinuierliche Spin- und Dichteoszillation, die die Kriterien eines Zeitkristalls erfüllte. „Jede Forschergruppe hat sozusagen ihren eigenen Baukasten, um sich dem theoretischen Konstrukt des Zeitkristalls anzunähern“, beschreibt Esslinger die unterschiedlichen experimentellen Vorgehensweisen. Gleichwohl lassen sich solche Quantensysteme aufgrund technischer Limitierungen bislang nicht in beliebiger Größe realisieren.

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Den bislang größten Zeitkristall vermeldete im Frühjahr 2021 ein Team um Gisela Schütz vom Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme in Stuttgart. In ihrem Versuch hatten die Forscher einen mehrere Mikrometer langen Streifen einer magnetischen Eisen-Nickel-Legierung mit Mikrowellen angeregt. Als die Forscher ihre Probe mit einem Röntgenstrahl abtasteten, beobachteten sie ein magnetisches Streifenmuster, das periodisch oszillierte: Diesen Zeitkristall konnten die Forscher sogar auf einem Video festhalten.

Ein „Baukasten“ für Zeitkristalle völlig anderer Natur ist das nun vorgestellte Experiment mit dem Quantencomputer Sycamore. Hier verschwimmt die Grenze zwischen Versuch und Simulation: Die quantenmechanische Hardware erzeugt den Zeitkristall tatsächlich und berechnet ihn nicht nur durch eine Software, wie es bei herkömmlichen computergestützten Modellierungen anderer Phänomene der Fall ist. Mit Sycamore lassen sich Zeitkristalle daher gleichermaßen wie in einem Laborversuch kontrolliert erzeugen und studieren.

Insgesamt zwanzig Qubits des Quantenprozessors – tiefgekühlte winzige ­supraleitende Schaltkreise, in denen elek­trische Ladungen hin- und herschwingen – fungierten dabei sozusagen als eine Kette interagierender Spins, die jeweils in zwei entgegengesetzte Richtungen zeigen können. Durch die Steuerung ihrer Orientierung mit periodisch wiederkehrenden Mikrowellenpulsen ließen sich die Spins dazu bringen, dass sie entlang der Kette ihre Ausrichtung wechselten, und zwar mit einer niedrigeren Frequenz als die der anregenden Mikrowellen. Den Wissenschaftlern gelang es, die kollektive Schwingung der Quantenbits für einige hundert Zyklen zu beobachten. Störungen, verursacht etwa durch Wärmeentwicklung, brachten die Qubits allmählich aus dem Takt und zerstörten den Zeitkristall. In Simulationen, die Sycamore selbst ausführte, konnten die Forscher jedoch die Langzeitstabilität ihres Kristalls demonstrieren.

Praktische Anwendungen für Zeitkristalle gibt es bislang noch keine. Die Hoffnung der Forscher ist vielmehr, dass solche Experimente womöglich fundamentale physikalische Fragen beantworten könnten: Haben die drei Raumdimensionen und die vierte Dimension, die Zeit, eine Gemeinsamkeit, die man bisher nicht kannte? Für Antworten sei es aber noch zu früh, sagt Tilmann Esslinger. Zunächst gelte es herauszufinden, ob diese seltsamen Quantenzustände wirklich ewig oszillieren können. Noch sei das umstritten. „Man kommt dicht heran, aber eben nicht ganz.“

Mittlerweile glaubt man außerdem, dass die Energie als Ganzes im Zeitkristall erhalten bleibt und die Entropie auf einem konstanten Level verharrt. Die Hoffnung so mancher auf ein Perpetuum mobile – also eine Maschine, die Energie aus dem Nichts erzeugt – ist damit hinfällig. Spannend findet Esslinger stattdessen die Frage, ob die quantenmechanischen Beobachtungen irgendeine Auswirkung auf die makroskopische Welt haben. Erst viele weitere Baukasten-Experimente werden darauf Antworten liefern.

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